Die erwarteten Attacken bleiben aus. Ganz im Gegenteil, bei
mir baut sich ein Stimmungshoch auf. Wo kommen die Endorphine her? Ich verstehe
es nicht.
Ich beginne zum Thema Lungenentzündung zu recherchieren. Man
will ja zumindest grob informiert sein. Die gefundenen Information wäge ich ab,
vergleiche sie miteinander. Ich gehöre nicht zu denen, die sich via Internet
ihre eigene Diagnose zusammenbasteln und dann panikartig verbreiten, daß sie
aufgrund ihres eingerissenen Daumennagels nunmehr einem langsamen und
qualvollen Tod entgegen sehen. Aber ich will wenigstens grob wissen, was da auf
mich zukommen kann, welche Abgrenzungen der Lungenentzündung es gibt, wie eine
mögliche Behandlung aussehen könnte und wie lange der Spaß voraussichtlich
dauern wird, ohne eine allzu großen Anspruch an eine hundertprozentige
Umsetzung des theoretischen Erkenntnisgewinns zu haben. Was nicht in der
Wikipedia steht, das gibt es nicht. Andererseits findet das Leben immer einen Weg,
sich gegen in Stein Gemeißeltes zu behaupten.
Die Einweisung kann ich erst am nächsten Morgen abholen. Den
Weg zur Praxis schaffe ich unter den gegebenen Umständen nicht zu Fuß. Es sind
nur 700 Meter über eine Hügelkuppe auf halbem Weg, also im Normalfall keine
Herausforderung. Aber in meinem jetzigen Zustand und unter den aktuellen
Wetterbedingungen für mich schlichtweg unmöglich zu laufen. Auf einen Tag
sollte es ohnehin nicht ankommen.
Am Dienstag beschrifte ich die beiden Umschläge für die
AU-Meldungen. Das Ergebnis auf den Umschlägen wirkt ungelenk und fahrig, sollte
aber lesbar sein. Ich hole die Einweisung direkt zur Praxisöffnung ab, bringe auf dem
Weg noch die beiden Umschläge zur nahegelegen Postfiliale, fahre wieder nach
Hause. Anschließend warte ich darauf, daß die zweitbeste Ehefrau von allen ihren
persönlichen Betriebszustand von Zuckt
noch über Und sie bewegt sich doch
auf Maschinen auf halber Kraft hin zu
Ist kommunikationsbereit als
vorläufiges Endstadium wechselt. Das Ist
kommunikationsbereit-Stadium beinhaltet dabei schon die Möglichkeit des
Ausführens weiterführender Aktionen innerhalb übersichtlicher und
akzeptierbarer Parameter. Schließlich packe ich auf Weisung der zweitbesten Ehefrau von allen noch eine Tasche mit Ausrüstung für drei Übernachtungen im Krankenhaus.
Mein latentes Hochgefühl hält an. Die zweitbeste Ehefrau von
allen hat schon am Vortag darauf hingewiesen, die Möglichkeit der Buchung eines
Einzelzimmers unter Zahlung des Zuschlages als Differenz zu Privatpatienten im
Krankenhaus zu ermitteln und die Nutzung entsprechend in Betracht zu ziehen,
aber ich lehne weiterhin ab. Keine Panikattacken in Sicht. Ich biete
meinerseits sogar an, zunächst alleine ins Krankenhaus zu fahren. Im Fall des
Falles würde ich ja nicht direkt einkassiert werden, sondern könnte Balduin ja
immer noch zurückführen und mich dann von ihr wieder in Krankenhaus fahren
lassen. Es muß ja nicht sein, daß sie bei dem Wetter die ganze Zeit sinnlos da
herumhängt. Das aber wiederum wird von ihr abgelehnt.
Meine Befindlichkeiten sind ihr unheimlich. Mir auch. Ich
erkläre es mir in meiner Vorstellung so, daß ich dieses Mal ja Zeit zur
Vorbereitung hatte und ich auch mit der Diagnose etwas anfangen konnte.
Außerdem sind mir die Abläufe vor Ort nunmehr weitgehend bekannt, was allerdings
nicht die grundsätzliche Problematik der Übernachtung zusammen mit Fremden in
einem Zimmer aushebelt. Meinen letzten Krankenhausaufenthalt habe ich
letztendlich auch psychisch als wohltuend empfunden. Ich wurde gezwungenermaßen
aus allem herausgeholt, musste mich mal um nichts kümmern. Außerdem steht ja immer noch die Aussage
meines Arztes im Raum, nach der er nicht mit einem Aufenthalt im Krankenhaus
rechnen würde. Die Möglichkeit einer stationären Aufnahme habe ich also schon
auf dem Schirm, allerdings mit einer Wahrscheinlichkeit dagegen. Meine
laienhaft naive Vorstellung liegt eher darin, daß man den Erreger eingrenzt,
das passende Antibiotikum ermittelt und den Rest ambulant erledigen lässt.
Vor dem Verlassen der Wohnung sehe ich mich nochmal um. Ich
erkenne deutlich, daß die vielen kleinen Handgriffe, die ansonsten wie
selbstverständlich ausgeübt werden, in den letzten Tagen unterblieben sind. Mal
eben auf dem Weg was hierhin oder dorthin packen, eben etwas wegwischen.
Kleinkram halt, den man als dem Prinzip Ordnung nahestehender Mensch ohne
nachzudenken nebenbei erledigt. All das hatte in den letzten Tagen bei mir
nicht funktioniert. Es ist erschreckend.
Wir erreichen die Klinik. Die Notaufnahme ist erkennbar von
Baumaßnahmen betroffen; wir werden zur Not-Notaufnahme ins Untergeschoss
geleitet. Im dortigen Wartebereich sitzt der Umgebung entsprechend wartender
Weise eine ältere Dame mit Begleitperson und ebensolchem Begleitkoffer. Die zweitbeste
Ehefrau von allen nimmt mir meine kleine Tasche mit den Utensilien für den Tag
ab und setzt sich ebenfalls. Die große Tasche verbleibt noch im Auto. Ich warte an dem Schild, welches mich dazu
auffordert, an diesem Schild zu warten, bis der Anmeldebereich der Not-Notaufnahme
frei wäre. Dies ist er gerade nicht. Ich bemerke einige Rettungssanitäter, die
sich dort geschäftig tummeln. Eine Trage wird hinausgefahren, eine Dame
verlässt den Bereich. Der Typ hinter mir
erkundigt sich bei mir, ob ich denn immer noch warten würde. Ja, Mann,
natürlich. Da drinnen geht offensichtlich die Post ab, wenn man nicht davon
ausgeht, daß die Meute Rettungssanitäter da eine Party feiern. Herr, lass Hirn
regnen. Oder Steine. Aber ziel gut.
Diese Gelegenheit wird von einem Muttchen – mir fällt kein
anderer Begriff ein – genutzt, um mit ihrer Plastiktüte zur Anmeldung zu
huschen. Sie wolle die Tüte ihrem Angehörigen bringen. Die Damen an der
Anmeldung warfen baten sie direkt wieder hinaus. Ich bemerke immer noch
geschäftiges Treiben von Rettungssanitätern und warte weiter. Inzwischen bilden
wir zu dritt die fast kleinstmögliche ernst zu nehmende Warteschlange, welche
eine solche Bezeichnung verdienen könnte. Den Tresen der Anmeldung habe ich
fest im Blick. Zwei Damen wirken sehr beschäftigt. Man bemerkt mich, sagt aber
nichts. Also wird der Zugang wohl weiterhin nicht freigegeben sein.
Nach weiterer Wartezeit, in der ich von drinnen nichts mehr
hörte, aber auch keine Aufforderung zum Eintritt bekomme, klopfe ich an den
Türrahmen und frage nach, ob der Bereich weiterhin als besetzt gelten würde.
Die beiden miteinander beschäftigten Damen, welche von meiner Anwesenheit
wissen, ignorieren mich weiterhin. Eine der beiden ist wohl zur Einarbeitung
vor Ort und bekommt einige Erklärungen. Abseits meines bisherigen Sichtfeldes
sitzt eine weitere Dame, welche mir erklärte, daß alles frei sei und ich
eintreten dürfe. Hier wähne ich ein leichtes organisatorisches Problem im
Ablauf, welches aber nunmehr nicht mehr das Meine ist. Ich stelle mein Anliegen
dar, so daß man mich aufnehmen kann.
Eine junge Dame in Blau geleitet mich in den hinteren
Bereich der Not-Notaufnahme und weist mir eine Liege zu. Die Bereiche sind nur
durch Vorhänge voneinander getrennt. Alles wirkt sehr provisorisch, aber
funktionell. Emergency Room ist anders. Ich bin lieber hier. Es liegt eine sehr
gute Atmosphäre in der Luft, welche aber eher psychologischer denn klimatischer
Natur ist. Doch besser so als anders herum. Scherzworte fallen, man bewegt sich
zügig aber ohne Hektik.
Die Dame in Blau beginnt mit der Untersuchung, misst meinen
Blutdruck am rechten Arm. Dabei bemerkt Sie meine Tätowierung.
„Hey, ein Einhorn. Damit sind Sie ja total up to date.“
Ich denke darüber
nach, daß diese Tätowierung vermutlich älter ist als die Person, welche ihrer
gerade ansichtig geworden war, antwortete aber nur:
„Das Einhorn feiert
auch schon seinen 25. Geburtstag.“
„Ja, daran sieht man, daß alles wiederkommt.“
Nein, Kind, eine Einhorn-Modewelle so wie in letzter Zeit
hatten wir damals auch nicht.
Ich denke über eine zweite Tätowierung nach. Schon seit
Jahren und auch aktuell auf der Liege sitzend. Im Moment ist mir die Sache
etwas zu teuer. Es soll wieder ein plastisch gearbeitetes Bild sein und einen
realistischen Bären darstellen. Einen Grizzley, Braunbären, Schwarzbären oder
so ähnlich. Außen auf dem linken Unterarm. Der Platz ist fest reserviert für
Papa Bär.
Die Dame in Blau misst den Sauerstoffgehalt meines Blutes,
meldet jedoch massive Zweifel an der Funktionsfähigkeit des Gerätes an. Die
Werte sind dermaßen niedrig, daß es eigentlich nicht sein kann. Neuer Versuch
an einem Finger der anderen Hand. Das Ergebnis ist vergleichbar. Es könnte
einen Grund zur Beunruhigung darstellen. Später unternimmt sie einen neuen Versuch mit einem Ersatzgerät. Das Ergebnis sorgt bei ihr weiterhin nicht für Ausbrüche von Begeisterungsbekundungen.
Sie legt mir nach einiger Zeit einen Permanent-Zugang für
Infusionen und schließt mich direkt an. Es gibt eine Kochsalzlösung. Meine Haut erscheint ihr etwas
ausgetrocknet zu sein, ich hätte wohl in letzter Zeit zu wenig getrunken.
Ausgerechnet ich. Sehr bedenklich. Nach der Entfernung des Tropfs meint sie zu
mir, daß ich den Zugang als Geschenk des Hauses auHHhAUSES behalten könne, wenn ich die Notaufnahme
verlasse. Ich mag keine Geschenke, nehme aber dennoch an. Es gibt sowohl
Angebote als auch Geschenke, die man einfach nicht ablehnen kann.
Nach einiger Wartezeit erscheint ein junger Mann. Er stellt
sich als Medizinstudent im letzten Jahr vor, führte die Untersuchung fort und
möchte mir Blut aus der Arterie abnehmen. Zu diesem Zweck schnappt er sich mein
linkes Handgelenk und beginnt mit seiner Tat.
„Es wird etwas länger als üblich piksen. Die Arterie ist
weiter unten.“
Er sucht, pikt, sucht weiter, machte eine Bemerkung über
sein Tun und einen eventuellen Schmerz meinerseits, welcher aber tatsächlich übersichtlich
war.
„Junger Mann, wenn ich
Ihnen jetzt sage, daß Sie ein guter Stecher sind, hört sich das vermutlich
ziemlich scheiße an.“
Ich bemerke wie er sich beherrschte. Er zapft, dann lachte
er los und sichert währenddessen den Einstichkanal.
„Ja, würde sich scheiße anhören. Der war gut. Mir fiel noch
nicht mal was ein, was ich antworten könnte.“
Dann kann er ja schon mal anfangen, darüber nachzudenken.
Den Spruch wird er vermutlich in dieser oder abgewandelter Form zukünftig noch
häufiger hören.
Jens von der Pflege erscheint. Er schnappte sich mein
rechtes Handgelenk und suchte die Arterie, um dort noch mehr Blut abzuzapfen.
Es funktioniert schneller als beim Studenten. Anschließend führt die junge Dame, welche die
Eingangsuntersuchung gemacht hatte, die zweitbeste Ehefrau von allen zu mir.
Sie gibt mir meine Tagestasche. Diese enthält Bücher, Taschentücher und vor
allen Dingen Wasser. Wasser! Gute Maßnahme. Es ist warm dort unten und bin
schon dabei, zu verschwitzen. Anschließend werde ich auf der Liege von einem mindestens
kurz vor der Rente stehenden, schlecht gelaunten älteren Hutzelmännchen entführt
und nach oben transportiert. Der Patientenaufzug wird von einer Dame bedient,
welche den ganzen Tag nichts anderes macht als diesen Aufzug durch die Gegend
zu fahren. So macht sie Kilometer um Kilometer. Wir werden uns noch häufiger
begegnen. Ich erfahren aus dem kurzen Gespräch zwischen ihr und dem
Hutzelmännchen, daß heute scheinbar überall im Haus Personal ein seltenes Gut
ist.
Man parkt mich auf einem Flur in deutlich angenehmerer Luft.
Andere Patienten warten ebenfalls, überwiegend in liegender Weise. Wir befinden
uns im Röntgenbereich. Meine Mitstreiter nörgeln herum, beschimpfen die Dame,
welche das Gerät bedient, fragen über den Flur rufend, ob man sie vergessen
habe, obwohl sie nahezu zeitgleich mit mir dort aufgeschlagen sind. Und es ist tatsächlich
noch nicht viel Zeit vergangen. Ich entspanne mich, genieße die angenehmere
Luft und bemühe mich, meine Umgebung auszublenden. Wenige Minuten später ist
meine Lunge von Röntgenstrahlen durchdrungen und ich werde wieder nach kurzem
Zwischenparken nach unten gebracht.
Nochmal werde ich gepikst. Neue Fragen werden gestellt. Eine
Ärztin huscht mal hierhin und mal dorthin, erklärt den Patienten, daß sie nun
hier blieben müssen oder daß sie zur Weiterbehandlung zum Hausarzt zu gehen
haben. Ich harre der Dinge. Ausharren kann ich gut.
Irgendwo im Hintergrund höre ich meinen Namen fallen.
Station 1.3 wird als Zielort angesagt. Also bleibe ich wohl doch hier.
Informationen habe ich nicht bekommen. Das Hutzelmännchen erscheint in jetzt
deutlich besserer Laune und bringt mich auf der Liege liegend auf den Weg. Wir
kommen an dem Wartebereich vorbei. Ich erwähne, daß es eventuell besser sein
könnte, meine Frau mit nach oben zu nehmen. Das Hutzelmännchen bestätigt und
fragt nach, welche es denn sei. Ich entscheide mich für die Dame ganz hinten
sitzend, welche uns gerade bemerkt hat. Ich winke ihr zu, sie möge mitkommen.
Die zweitbeste Ehefrau von allen kommt und sieht mich irritiert-irre an. Ich
weiß, daß sie beim dem Arztgespräch gerne dabei gewesen wäre, weswegen ich auch
darum gebeten hätte, sie zu dem Gespräch reinzuholen, bevor ich ihr später
wieder tausend sehr spezifische Fragen beantworten soll, was ich ohnehin nicht
kann. Ich bin Mann und reduziere auf das Wesentliche. Aber ein Gespräch hat ja
nicht stattgefunden. Ich weiß nur aus dem aufgeschnappten Wortfetzen, daß es
auf die Station geht. Dies versuche ich, ihr mehrfach zu verdeutlichen. Scheint
irgendwann geklappt zu haben.
Auf der Station werde ich in einem Dreibettzimmer
untergebracht. Die Schwester ist erleichtert, daß ich vollkommen mobil bin und
selber gehen kann. Man hatte mich wohl auf der ältesten vorhandenen Liege
untergebracht, welche sich nicht mehr übertrieben gut und leichtgängig bewegen
ließe. Ja, das in Verbindung mit meinem Gewicht dürfte zu Begeisterungsstürmen geführt
haben. Im Nachhinein bin ich leicht beeindruckt, wie souverän das
Hutzelmännchen mit durch die Gegend bugsiert hat. Aber er ist da Profi und
macht den ganzen Tag nichts anderes.
Wir betreten das Zimmer. Zwei Männer liegen in ihren Betten.
Ich sage die Tageszeit und bekomme freundlich Antwort. Ich bin auf Station.
Alles ist gut. Keine Panikattacke im Anzug. Nicht mal ein Hauch davon.