In dem erlauchten Kreis früherer Kollegen, zu denen ich
heute keinerlei Kontakt mehr habe, gab es zwei Damen mit Prinzipien. Eines
dieser Prinzipien lautete:
„Wenn ich im Urlaub nicht wegfahre, dann ist es kein
Urlaub.“
Und so leistete man es sich, zwei Mal im Jahr wegzufahren.
Mindestens eine Reise davon musste immer eine Fernreise sein. Dafür lebten und
arbeiteten sie und verzichteten auf vieles andere. Die getroffene Aussage entspricht ja insoweit auch dem
typischen Klischee des reisefreudigen Deutschen.
Was mich betrifft, hasse ich
es, wegzufahren.
Als ich noch Kind war, sind wir regelmäßig in Urlaub gefahren.
Zumeist landeten wir in Ostfriesland, aber auch die Ostsee, Österreich,
Bulgarien und die Kanarischen Inseln waren Ziele. 1982 war dann, abgesehen von
einer Fahrt nach Franken ein paar Jahre später, erst mal alles vorbei. Meine
Eltern hatten ein Haus gekauft, somit war an Urlaubsreisen nicht mehr zu denken.
Und hier war soweit auch noch alles weitgehend für mich in Ordnung. Dem Fernweh
bin ich nie unterlegen, aber ich fand auch nichts dabei, von zu Hause weg zu
sein.
Dies änderte sich. Den ersten eindeutigen Schlag gab es, als es
darum ging, eine Woche bei meiner seinerzeitigen Brieffreundin Ada in
Dirksland, einem Ort mit etwas mehr als 8.000 Einwohnern in Südholland zu
verbringen. Ich habe familiär bedingt schon immer einen positiven Bezug zu den
Niederlanden gehabt. Ich mag die Kultur, die Lebensweise und das Land. Und vor
allen Dingen mag ich die Nordsee. Doch gab es ein Problem: Alleine Adas große
Schwester sprach ein leidlich gutes Deutsch, der Rest der Familie eher nicht. Meine
Eltern brachten mich zu ihnen, doch als es darum ging, wirklich dort zu
bleiben, machte ich zu. Es ging nicht. Ich konnte nicht vor Ort bleiben. Wir
einigten uns schließlich spontan darauf, daß wir im Gegenzug Ada für die
vorgesehene Zeit mit zu uns nehmen würden.
Beruflich bedingt habe ich während meiner Aus- und später auch der Fortbildung summa summarum einige Monate in Internaten zugebracht, viel mehr als unsere Lernenden heute. Später
dann gab es immer wieder einige Zeit in diversen Schulungseinrichtungen und
Tagungshotels. Hier fiel mir immer mehr auf, daß es für mich schwieriger wurde,
von zu Hause weg zu sein. Zu drei rein privaten weiteren Reisen mit Kollegen,
bei der letzten auch in Begleitung der zweitbesten Ehefrau von allen, konnte
man mich schon nur noch mit Müh‘ und Not überreden.
Die ersten Tage sind stets die schlimmsten. Ich brauche
meine Zeit, bis ich die Örtlichkeiten und Abläufe verinnerlicht habe. Und wenn
es nur darum geht, den Speiseraum des Hotels zu finden und erfahren – nicht nur
irgendwo gelesen – zu haben, daß es vollkommen in Ordnung ist, da auch schon um
sieben Uhr zum Frühstück aufzuschlagen, wenn alle anderen Gäste sich in ihren
Betten noch ein zweites Mal herumdrehen. Aber selbst hier in dem Speisesaal muß
ich die Spielregeln schließlich erst lernen. Wie ist es mit den Getränken?
Werde ich nach meinen Wünschen gefragt? Muß ich irgendwo hingehen und
bestellen? Oder befinden sich die Kannen alle auf einem Buffet-Tisch?
Dann geht es weiter. Kann ich mich hier verständlich machen?
Wir sind wieder beim Problem der Sprache. Ich meine damit nicht zwangsläufig
Fremdsprachen, sondern auch Dialekte. Ich bekomme ja schon eine mittelschwere
Krise, wenn ich hier im Neustädter Ländchen mal in die örtliche Pommesbude
gehe. Bin ich alleine, spricht man dort so etwas Ähnliches wie Hochdeutsch mit
mir. Sind aber weitere Kunden anwesend, verfällt man allgemein sofort in den
hiesigen Dialekt. Und dann heißt es für mich ganz gewaltig aufzupassen, was man
überhaupt von mir will.
Und da sind wir beim Kern nicht nur des Problems des
Verreisens. Ein zentraler Punkt der Phobie ist für mich die Sorge, mich nicht
verständlich machen zu können. Ihr erinnert vielleicht an diesen Eintrag:
< Klick mich > Er ist von der Leserschaft hier augenscheinlich weitgehend mit Humor aufgefasst
worden, aber die von mir getroffene Aussage war durchaus so gemeint, wie ich
sie formuliert habe. Meine Sprachfärbung ist, soweit ich das beurteilen kann, vom
Ruhrdeutsch zwar nicht geprägt, aber durchaus beeinflusst. Nicht so überspitzt, wie die Älteren hier es
vielleicht noch von
Adolf Tegtmeier her
kennen, aber wohl doch erkennbar. Damit sollte man überall in diesem Lande zu
verstehen sein.
Umgekehrt gibt es natürlich Gegenden, in denen sehr viel
härtere Dialekte gesprochen werden, von Menschen, die Deutsch nicht als
Muttersprache gelernt haben mal ganz abgesehen. Hier sehe ich es an mir,
irgendwie eine Verständigung herbeizuführen, gleich ob ich derjenige bin, der
etwas ausdrücken will, oder ob ich der andere bin, der etwas auffassen muß.
Sowohl im Urlaub als auch zum Beispiel im persönlichen Kontakt mit meinen
Kunden. Oder eben auch am Telefon, was dann natürlich noch einen draufsetzt. Verständigungsschwierigkeiten
bringen mich sehr schnell an den Rand meiner mentalen Kapazitäten. Sowohl die
sprachlich bedingten als auch die, welche lediglich inhaltlicher Art sind. Also
die Fälle, in denen ich etwas erklären muss und mein Gegenüber selbst eine von
mir gewählte bewusst einfache Wortwahl nicht versteht, wie es in meinem Beruf
angebracht ist. Ich baue mir den Druck gegen mich selbst auf; ich habe die
Angst, als der Vollhonk dazustehen. Und im Falle einer Reise natürlich durch
unbewusstes Fehlverhalten aufzufallen und nicht in der Masse untergehen zu
können.
Hier findet sich auch der zentrale Grund, warum ich vor
allen Dingen im Büro nur sehr ungern ans Telefon gehe, wenn ich weiß, daß der
Anruf von extern kommt. Mit internen Anrufen habe ich da durchaus weniger Probleme.
Ich habe bereits Unterricht gegeben. Ich habe in Rajivs
Trainerschule Vorträge gehalten. Ich war ein Jahr lang in unserer unmittelbaren
Kundenbetreuung beschäftigt, Auge in Auge mit der Kundschaft. Ich weiß, daß ich
es kann. Natürlich gibt es immer mal wieder Situationen, in denen es mal
schwieriger geworden ist. Das ist unangenehm, aber wohl durchaus normal. Doch das
waren wenige Ausnahmen. In 99 % aller Fälle, egal ob als Referent, Berater, Sachbearbeiter
am Telefon, als Mensch am Empfang, Moderator einer Bühnenshow, Kunde oder
Urlaubsgast hat es funktioniert.
Doch die Angst bleibt. Die Angst, als der Doofmann
dazustehen, der sich noch nicht mal ausdrücken kann. Der zu blöd ist, zu
verstehen. Der die Antwort auf die gestellte Frage nicht kennt. Der nicht mehr
weiter weiß. Die Angst ist nicht rational, sieht nicht das nüchterne, mathematisch
eindeutige Ergebnis.
Und deswegen fahre ich auch nicht einfach mal weg.