In gewissen zeitlichen Abständen treffen sich
die Seniorsachbearbeiter des LASA, getrennt nach ihren jeweiligen Fachbereichen,
mit einigen Herrschaften der Abteilungsleitung zu einem Austausch in der großen
Stadt, also in der LASA-Hauptverwaltung in Bad Husten. Praktiker unter sich.
Nicht so wie die Theoretiker, also die Außenstellen- und irgendwie auch die
Fachbereichsleiter. Wir sind die Basis. Wir wissen, wovon wir reden. In der
guten alten Zeit fand so ein Termin alle drei Monate statt, dann verlängerten
sich die Zeiträume und es dauerte schließlich satte drei Jahre, bis man mal
wieder zusammenkam. An jenem denkwürdigen Tag mussten wir den Arbeitskreis mit
der riesigen Tagesordnung aus Zeitgründen vorzeitig beenden. Man würde sich, so
die Aussage der Herrschaften der Abteilungsleitung,
zeitnah wieder treffen, um die noch offenen Punkte zu erörtern.
Wenn unsereins auf Wunsch der
Abteilungsleitung etwas zeitnah
erledigen soll, dann bedeutet das soviel wie am besten gestern oder noch früher. Jetzt weiß ich auch, was zeitnah bedeutet, wenn unsere
Abteilungsleitung dies auf sich bezieht: ein halbes Jahr. Ich habe so den
Verdacht, daß ich mich darauf im Zweifelsfall nicht als Referenz berufen darf.
Für die in Bad Husten arbeitenden Kollegen ist
der Arbeitskreis immer wieder eine nette Unterbrechung des Arbeitsalltages; für
mich aber geht aufgrund der langen An- und Abreise mit der Bahn regelmäßig ein
ganzer Arbeitstag verloren. Dennoch halte auch ich diesen Arbeitskreis für
sinnvoll, sieht man doch neben dem tatsächlichen Erfahrungsaustausch auch die
alten Mitkämpfer wieder und stellt fest, daß die grauen Haare auch bei ihnen
überhandgenommen haben.
Den Weg vom Bahnhof bis zu dem Gebäude, in dem
das LASA seinen Sitz hat, laufe ich meistens. Hier habe ich 14 Jahre lang
gearbeitet, bis ich wunschgemäß in die erste Außenstelle versetzt wurde. Es ist interessant zu
sehen, wie die Gegend sich verändert. Interessant, aber nicht schön. Auf dem
Weg haben viele der alten Geschäfte mittlerweile geschlossen. Den exklusiven
Pralinenladen gibt es ebenso wenig noch wie das doch einst immer gut besuchte
Reisebüro und den alteingesessenen und wirklich gut sortierten Spielzeugladen,
welcher noch zu meiner Zeit sein hundertjähriges Geschäftsjubiläum gefeiert
hat. Der familiengeführte Elektronik- und Schallplattenladen ist weg, und die
von mir einst hoch geschätzte Imbissbude musste einer türkischen Imbisskette
weichen. Selbst die beiden Geschäfte mit Artikeln für die Ehehygiene gibt es
nicht mehr. Der Onlinehandel fordert seinen Tribut.
Überhaupt finden sich auf der ersten Hälfte
des Weges zunehmend türkische Geschäfte, zumeist Imbisse oder Kioske. Nicht,
daß ich etwas dagegen hätte, aber es fällt auf. Bedenklich scheint mir
allerdings zu sein, daß auf dem Weg, den ich in einer guten Viertelstunde zu
Fuß bewältige, mittlerweile vier Pfandleihen betrieben werden. Ich mutmaße, daß
dies nicht für die wirtschaftliche Entwicklung der Gegend spricht.
Endlich angekommen betrete ich die LASA-Hauptverwaltung und
begebe mich direkt auf dem Weg zu Konferenzraum. Ich habe noch Zeit. Trotz der
abenteuerlichen Anreise, verbunden mit einem Zugausfall und zwei verspäteten
Anschlüssen, bin ich zu früh. Normal. Ich bin nicht der erste im Raum. Ein Kollege
aus einer noch weiter entfernten Außenstelle, welche eine noch unmöglichere
Verkehrsanbindung hat, sitzt auf seinem Platz und liest Zeitung. Wir alle haben
unsere Stammplätze. Diese haben sich in Jahrzehnten ausgebildet. Ich erinnere
mich noch an die Zeit vor 16 Jahren, als ich erstmals in diesen Arbeitskreis
berufen wurde. Einige Kollegen von damals sind heute noch dabei, einige haben
gewechselt. Es ist mitunter erschreckend, wie jung der Nachwuchs heute noch
ist, wenn er sich Seniorsachbearbeiter nennen darf. Kaum Erfahrung, quasi noch
grün hinter den Ohren und entsprechend in unserer Runde auch überfordert.
Sofern man sich überhaupt traut, etwas zu sagen.
Früher, als noch alles wie früher war, gab es
reichlich Kaffee, Tee, Wasser, Fruchtsäfte und Kekse. Die Fruchtsäfte wurden
als erstes eingespart. Zu teuer. Dann die Kekse. Der Hausdienst kommt und deckt
ein. Wie immer für 24 Teilnehmer zuzüglich der Kollegen der Abteilungsleitung.
Für je zwei Tische mit je zwei Sitzplätzen gibt es eine Kanne Kaffee und eine
Flasche Wasser. An jedem dritten Tisch werden an Stelle des Kaffees eine Kanne
heißes Wasser und ein paar Teebeutel bereitgestellt. Ein Schälchen mit
Kaffeesahne und Zucker gibt es alle zwei Tische.
Ich nehme das Recht des Erstgeborenen
früh Erschienenen in Anspruch und tausche die vor mir stehende Kaffeekanne
gegen die Kanne mit heißem Wasser und den Teebeuteln aus. Im gesamten Angebot
finden sich drei Beutel mit Sorten, die ich zu mir nehmen würde. Die
bereitgestellten Tassen sind winzig. Die Teebeutel auch. Und dann geschieht das
Wunder. Es gibt wieder Kekse. Einen Dessertteller voll für jeden dritten Tisch.
Es ist unfassbar. Ein Herr der Abteilungsleitung meinte, er habe einfach mal
wieder versucht, welche zu bestellen und es hätte funktioniert. Einfach so. Wir
leben wahrlich wieder in goldenen Zeiten.
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| kein Symbolbild |
Nach und nach trudeln die restlichen Kollegen
ein. Wir reden über das, was ältere Herrschaften so bewegt. Die guten, alten
Zeiten eben. Die Veranstaltung beginnt pünktlich. Wir ziehen das Programm nur
mit einer Pinkelpause durch. Gegen späten Mittag werden die im LASA arbeitenden
Kollegen unruhig. Die Kantine droht so langsam zu schließen. Den externen
Kollegen ist es egal. Draußen in der Wildnis haben wir keine Kantinen. Und auch
keine Cafeteria, in der wir uns zur Frühstückspause bei günstigen aber
tatsächlich gut belegten Brötchen, Teilchen, Kaffee und Kakao treffen. Meine
Favoriten früher waren die Rührei-Brötchen und die Frikadellenbrötchen. Die
Frikadellen wurden stets hausgemacht und waren noch warm.
Die zu meiner Zeit schon gute und dem Vernehmen
nach sogar noch besser gewordene aber nicht ganz billige Kantine und die Cafeteria
der Hauptverwaltung habe ich ewig nicht mehr besucht, auch wenn ich Zeit dazu
gehabt hätte. Seit man dort die Barzahlung abgeschafft hat, sehe ich es nicht
mehr ein. Man muß an einem Automaten Geld auf seinen Dienstausweis einzahlen,
von dem dann an der Kasse abgebucht wird. Eine Guthabenerstattung ist nur auf
manuellem Weg während eines schmalen Zeitfensters im Büro des Kantinenleiters
möglich. Zu Uhrzeiten, in denen der Gast von außerhalb im Regelfall keine Zeit
dazu hat. Dann müssen sie eben ohne mich zurechtkommen. Ein Kunde weniger. Es
wird sie nicht stören.
In den Außenstellen gibt es überhaupt keine
Frühstückspausen. Auch keine inoffiziellen. Wer Hunger hat, beißt in sein
mitgebrachtes Butterbrot, während er weiterarbeitet. Wir beschließen, unsere
Tagung ohne Pause durchzuziehen, um schneller wieder auf dem Weg nach Hause zu
sein. Niemand möchte in den Feierabendverkehr von Bad Husten geraten. Wirklich
niemand.
Die Tagesordnung ist wieder umfangreich. Diese
abzuarbeiten erscheint mir sportlich. Doch einige Punkte werden dem Vernehmen
nach ausfallen. Der zuständige Kollege ist nicht im Dienst, sein Kind ist
erkrankt. Ein weiterer, ansonsten schon übertrieben redseliger Kollege kann
seine Themen ebenfalls nicht ansprechen. Dies ist wörtlich zu nehmen, denn er befindet
sich zwar vor Ort, ist aber erkältet und absolut heiser. Es gibt niemanden,
welcher für die beiden einspringen könnte. Die Expertendecke in der Abteilungsleitung
ist zu dünn. Für jedes Thema oder zusammengefasste Themenbereich gibt es mit
etwas Glück genau eine (1) Person mit ausreichendem Sachverstand. Fällt diese
Person wegen Krankheit, Urlaub oder auch einjähriger Elternzeit aus, dann war
es das erst mal.
Zahlreiche Tagesordnungspunkte später ist die
schon erwartete Ernüchterung eingetreten. Wieder einmal wurde uns bestätigt,
daß auch unsere Abteilungsleitung sich bewusst ist, daß viele Dinge im LASA weltfremd
gehandhabt haben und so wie wir sie machen auch noch unpraktikabel sind.
Änderungswünsche werden von den Praktikern der Abteilungsleitung an die Gremien
weitergereicht, welche für eine bundesweit einheitliche Bearbeitungsweise Sorge
tragen sollen. Hier sitzen keine Praktiker, sondern Juristen und ähnliche Theoretiker,
die vom wirklichen Leben und unserer Arbeit vor Ort keine Ahnung haben. Die aus
unserer Sicht sinnvollen Vorschläge werden dort regelmäßig zerredet und bis zur
Unkenntlichkeit verändert. Oder direkt abgelehnt. Was Gescheites ist selten
herausgekommen. Werte Opfer der deutschen Bürokratie: Wir vor Ort können nichts
dafür. Ehrlich. Wir müssen so sein. Meistens jedenfalls. Beschwert euch in den
diversen Hauptstädten, aber nicht bei uns. Wir sind auch nur Opfer.
Das letzte Thema der Tagesordnung wird
angesprochen. Mit etwas Glück könnte ich den nächsten Zug noch schaffen. Doch
„Vertan“ sprach der Hahn. Es gibt noch einen Nachschlag. Der genügt, um zu
wissen, daß ich erst den übernächsten Zug in Richtung Neustadt nehmen werde.
Vor dem Feierabend nochmal auf die Örtlichkeit
und Biomasse abwerfen. Die Fahrt wird lang, und auf das Erlebnis, in einem Zug
auf die Toilette zu gehen, kann ich verzichten. Die Räumlichkeiten hier in der
Hauptverwaltung, auf der Etage mit den Konferenzräumen, stehen in keinem Verhältnis
zu jenen, die uns draußen in der Pampa geboten werden. Hier gibt es sogar in
der Toilettenkabine einen Wandhaken, an dem sich eine Ersatzrolle mit WC-Papier
befindet. So etwas haben wir in den Außenstellen nicht. Die Ersatzrollen stehen
– will man sie direkt am Ort des Geschehens haben - entweder unmittelbar auf
dem schmutzigen Boden oder oben auf der Trennwand. Letzteres ist dann halt Pech
für Kleinwüchsige. Dafür haben wir noch warmes Wasser, um uns damit die Hände
zu waschen, was in der Hauptverwaltung im Zuge fälliger Renovierungen wegfallen
wird. Bei uns natürlich auch irgendwann mal, aber eben erst später. Warmes
Wasser ist für die einfache Belegschaft zu teuer.
Wieder schlendre ich den Weg zu Fuß. Mir
fallen weitere verschwundene Geschäfte auf. Das alte Kino ist weg, der
Fantasyladen auch. In dem großen Gebäude des ehemaligen Horten-Warenhauses
haben sich neue Mieter eingenistet. Es ist kein Name dabei, welcher mir etwas
sagen würde. An einer Verkehrsinsel hat man Palmen aufgestellt und diese in
einem erstaunlich gut wirkenden Beet mit einer Umrandung aus alten Autoreifen
platziert. Ist es Kunst oder Pragmatismus? Ich weiß es nicht, aber es gefällt
mir wirklich.
Am Bahnhof überlege ich, ob ich etwas Zeit in
der örtlichen Bulettengrillerei verbringen soll. Früher war es für mich mal
etwas Besonderes, hier zu speisen. Doch inzwischen gibt es ja überall Filialen
dieses von mir favorisierten Anbieters. Kein goldenes M, sondern der Andere.
Der mit der offenen Flamme. Etwa ein- bis zweimal im Jahr zieht es mich in eine
solche Filiale. Das muß dann aber auch reichen. Ich verzichte heute darauf.
Hunger habe ich ohnehin nicht. Drei oder vier Kekse werfen mich in Sachen
Appetit und Nahrungsaufnahme immer um Stunden zurück. Macht nichts, Geld
gespart. Außerdem habe ich in meinem Rucksack noch zwei Butterbrote. Doch auch
diese werden den Weg nach Hause noch bis zu Ende erleben. Frühstück für den
nächsten Tag. Sofern ich mal frühstücken sollte.
Die Anzeigetafel des Bahnhofs verrät mir, daß
zwei ICEs ausgefallen sind und ein IC ordentlich Verspätung hat. Das stört mich
nicht, die Benutzung dieser Züge wird von der Reisekostenstelle des LASA nicht
genehmigt. Ich nehme den Regionalexpress, zweite Klasse. Nahverkehr. Beinahe
schon Bummelzug. Er fährt einmal stündlich. Wenn er denn fährt. Heute ist er weitgehend
pünktlich. Über fünf Minuten Verspätung reden wir nicht. Kaum warte ich über 50
Minuten bei einer ordentlichen Brise auf dem Bahnsteig, schon ist er da. Die
Fahrt nach Neustadt und darüber hinaus weiter ins Neustädter Ländchen wird
wesentlich länger dauern. Der richtige Feierabendverkehr hat noch nicht
begonnen. Ich bekomme problemlos einen anständigen Sitzplatz. Der Sitz neben
mir wird erst nach mehr als halber gefahrener Strecke belegt. Mit einem
leichten Sprint erreiche ich in Neustadt meinen Anschluss.
Das war es mal wieder. Vermutlich wieder für
ein halbes Jahr.
Oder so.