Aus meiner Kindheit ist mir noch in Erinnerung, daß es damals Menschen gab, die in einer Tageszeitung immer zuerst nach den Traueranzeigen gesehen haben. Damals habe ich das nicht verstanden. Es war ja alles, was damit zusammenhing, so weit weg von mir.
Heute, Jahrzehnte später, mache ich das auch. Gut, zugegeben, nicht in der Tageszeitung. Da würde ich wohl auch niemanden finden, der mir bekannt ist. Was nicht verwunderlich ist, denn ich kenne hier im Neustädter Ländchen ja auch kaum jemanden.
Und eine Tageszeitung beziehen wir auch nicht.
Aber ich werfe den ersten Blick im Propagandablatt der Geschäftsführung in der Betriebszeitung immer auf die Seite, auf welcher die Jubilare, Ausgeschiedenen und Verstorbenen notiert sind. Ich bin ja nun so langsam schon länger in dem Alter angekommen, in dem das von Interesse ist. Vielleicht steht mein Name da ja auch schon, ohne das ich die zugehörigen Umstände mitbekommen hätte. Aktuell habe ich wieder den Namen einer früheren Vorgesetzten von mir gelesen, zu der ich seinerzeit auch einen übersichtlichen privaten Kontakt pflegte. Der Name stand nicht bei den Verstorbenen, aber bei den aus dem Dienst Ausgeschiedenen. Frühpensioniert. Sie ist nur wenig älter als ich. Was mich personenbezogen auch nicht übertrieben berührt. Es fällt mir eben schwer, größere emotionale Bindungen zu Menschen aufzubauen. Ich nehme – wie in diesem Fall – den Sachverhalt zur Kenntnis und bewerte ihn. Frühpension. Hätte ich damals nicht gedacht. Nicht bei dieser Kollegin.
In 20 Jahren kann sich viel ändern.
Alljährlich findet zu Beginn der Adventszeit immer das große Ehemaligentreffen bei Gänsekeule, Rotkohl und Klößen in der LASA-Hauptverwaltung in Bad Husten statt. Ehemalige bedeutet hier Rentner und Pensionäre, keine Gekündigten. Bilder der Veranstaltung finden sich wenig später im Intranet. Mittags habe ich mir diese 159 aktuellen Bilder mal angesehen. Die Zahl der Gesichter, die ich wiedererkenne, hat natürlich eine deutlich steigende Tendenz. Mittlerweile gibt es kaum noch Aufnahmen, auf denen niemand drauf ist, den ich nicht kenne. Ich bin früher auch viel im Haus herumgekommen; das merkt man jetzt immer wieder.
Die jungen Kollegen von heute können sich das so nicht mehr vorstellen. Sie sind in einer Außenstelle und bleiben da. Vielleicht wechselt man mal die Dienststelle, aber im Normalfall auch nicht mehr als einmal im Arbeitsleben. Und was ist die Personalstärke unserer Außenstelle schon im Vergleich zur Zahl der in der Hauptverwaltung Beschäftigten? Nichts. Ein Fliegenschiss. Wir würden alle auf einer Etage des Hochhauses unterkommen können und hätten noch Platz für mehr.
Wieder sehe ich mir die Gesichter an. Bei manchen bin ich überrascht, sie schon auf dieser Veranstaltung zu sehen. Da muß mir seinerzeit beim Lesen der eine oder andere Name durchgegangen sein.
Die Menschen altern sehr unterschiedlich. Es ist erstaunlich, wenn ich manchmal nur eine Vermutunghabe, daß ich die Person gekannt haben könnte. Weil mich die Augen an was erahnen lassen. Oder Mund, Nase oder andere markante Erkennungszeichen. Und mich erst später an das frühere Gesicht erinnere. Dann sehe ich, mit wem diese Person ständig auf den Bildern zusammen abgelichtet ist, und dann fällt mir ein, wer das ist und wo ich sie oder ihn einsortieren muß. Ohne diese Ableitungen – keine Chance.
An manche Namen kann ich mich nicht erinnern, obwohl wir lange Jahre, teilweise Jahrzehnte zusammen gearbeitet haben. Andere Namen und Gesichter kommen mir spielend zu Bewusstsein, obwohl der Kontakt vor fast 30 Jahren und nur flüchtig war. Vielleicht nur für ein paar Monate, längstens ein halbes Jahr. Auch kenne ich noch die Namen und Gesichter vieler Kolleginnen meiner Mutter aus der Zeit, als ich noch in der Grundschule war.
Unfassbar.
Eine Kollegin, die vereinzelt auch schon als Vorbild für die Figur des Sven herhalten musste, meinte mal, daß sie sich die Namen der jungen Kollegen aus unserer Außenstelle kaum noch merken würde. Die seien so schnell wieder weg, hätten gekündigt oder sich versetzen lassen, daß es sich nur selten noch lohne.
Ein wenig ist schon daran.
Mich wird man nie auf diesem Ehemaligentreffen finden. Entweder habe ich den Löffel schon abgegeben, bevor ich die Zugangsvoraussetzungen erfülle, oder aber mein Interesse ist gleich Null. Das ist ja wieder eine dieser Panikattacken auslösenden Veranstaltungen. Und ich wüsste auch gar nicht, was ich da soll. Small Talk ist nicht meine Kunst.
Dabei fällt mir ein, daß ich noch nie Gans gegessen habe.
Viele andere tote Tiere schon, darunter auch Hai, Strauß, Steinbock und Känguruh. Vielleicht auch Pferd, Esel und Würmer im Fisch, wobei das dann wohl eher der Fall war, ohne daß es mir bewusst geworden wäre. Aber keine immerhin - relativ - gewöhnliche Gans.
Ich werde es wohl verschmerzen.
Wie alles andere auch.