Wie ich bereits erwähnt hatte, stand hier eines jener selten gewordenen Ereignisse an. Das letzte derartige Ereignis ist über zwei Jahre her. Besuch wurde erwartet. Kein Besuch für mich, sondern für die zweitbeste Ehefrau von allen. Ich wäre an der Sache weitgehend unbeteiligt und plante, mich zeitig zurückzuziehen. Das hatte ich
hier ja bereits erwähnt. Und damit sollte die Sache für mich ausgestanden sein. Besuch zu empfangen war schon in der Vergangenheit nichts, dem ich gelassen entgegensehen konnte. Aber immer noch besser, als irgendwo anders selbst der Besucher zu sein. Immerhin habe ich hier den Heimvorteil in Form einer vertrauten Umgebung.
Wie gesagt, bin ich davon ausgegangen, dieses Mal etwas entspannter damit umgehen zu können als in den Jahren zuvor. Die Besucherin selbst war mir auch nicht gänzlich unbekannt; ich habe sie schon mal im Rahmen einer meiner Vortragstage in Rajivs Trainerschule kennen gelernt. Ein weiterer Punkt auf der Bonusseite.
Aber natürlich aktivierte sich das alte Schema wieder.
Wie so üblich bringt man die Wohnhöhle auf Vordermann, bevor Gäste empfangen werden. Einen Teil davon hatte ich ja schon erledigt. Andere Schwerpunkte hingegen lagen darin, Dinge wegzuräumen, welche in den Verantwortungs- und Nutzbereich meiner Angetrauten fallen. Diesen Teil übernehme ich aus verschiedenen Gründen nicht oder nur eingeschränkt – und ich sollte es auch auf ausdrückliche Weisung der zweitbesten Ehefrau von allen nicht tun.
Jetzt bin ich eher der Typ, der alles Erforderliche und Mögliche schon mit geraumem Zeitvorlauf erledigt haben will. Ich hasse es, auf dem letzten Drücker fertig zu werden. Allerdings lassen sich bestimmte Dinge aber erst erledigen, wenn andere Arbeiten bereits ausgeführt sind. Wer schon mal einen Ablauforganisationsplan erstellt hat, wird das kennen. Und ich bin in Bezug auf verschiedene Situationen ein wandelnder Ablauforganisationsplan. Um es anschaulich darzustellen: Will ich den Boden feucht wischen, wäre es zweckmäßig, die darauf befindlichen Stühle und andere Dinge eventuell auf einem Tisch abzustellen. Dazu sollte dieser Tisch aber zuvor abgeräumt worden sein. Ist doch soweit in sich schlüssig, oder?! So lange dies noch nicht geschehen ist, wird das Wischen des Bodens hingegen nur eingeschränkt möglich sein.
Die Erledigung der durch meine Angetraute zu leistende Vorarbeit verzögerte sich umständehalber, da sie kurzfristig einige unaufschiebbare berufliche Termine reinbekommen hat. Blöde Sache, aber so ist das nun mal. Bringt ja auch Geld, da will das niemand so eng sehen. Jeder ist käuflich; ich auch.
In den letzten zwei Tagen vor dem Tag X wurde ich dann zunehmend gereizter. Ein für mich im Zusammenhang mit der Erwartung von Gästen durchaus normaler Ausdruck steigender Nervosität. Am Tag X selber verschwand meine Angetraute dann planmäßig abends, um zu ihren Kursen zu gehen. Ihr Besuch würde bei uns aufschlagen, sobald sie auch wieder zurück sei. Natürlich barg dies dennoch das Risiko, daß ich die Tür aufmachen und den vorübergehenden Pausenclown spielen müsste, falls sich da einige zeitliche Verschiebungen ergäben. Kann ja immer mal sein. Also wieder ein Grund zur Anspannung, auch wenn ich erst mal dachte, daß ich aktuell ruhiger damit umgehen könnte.
Jedenfalls begann ich meine abschließenden Vorbereitungen zum Aufhübschen der Wohnhöhle – Entstauben, Wischen und andere derlei seltsame Dinge mehr – sobald meine Angetraute verschwunden war und ich allseits freie Bahn hatte. Ich hasse es, solche Dinge tun zu müssen, wenn jemand anderes zu Hause ist. Vom Zeitansatz her würde ich es rational gesehen locker hinbekommen, mein Vorhaben umzusetzen. Daran hatte ich keinerlei Zweifel. Aber es ist eben nicht immer das Rationale, was einen Menschen leitet. Ich habe
keine spitzen Ohren.
Als ich soweit durch war und die Fliesen wieder einen trockenen und somit begehbaren Zustand erreicht hatten, klingelte das Telefon. Der Tag und die Uhrzeit ließen nur zwei Vermutungen zu: Entweder wünschte
Herr Graumann mich zu sprechen, oder meine Angetraute, die etwas vermisste und sich bestätigen lassen wollte, daß es noch zu Hause herumliegt und nicht etwa in den Untiefen ihrer Tasche oder Balduins Kofferraum verschwunden sei. Nun, es handelte sich dann doch um den Erstgenannten.
Also nahm ich den Hörer ab.
„Paterfelis, alte Socke. (…) Wie lange ist es jetzt eigentlich her, daß ich zuletzt angerufen habe?“
Oh, das weiß ich ziemlich genau.
„Das war vorletztes Jahr kurz vor Weihnachten.“
Wer jetzt beim Lesen einen latenten Vorwurf in meiner imaginären Stimme wahrzunehmen gedenkt, liegt fehl. Ja, ich betrachte meine gelegentlichen Kontakte zu Herrn Graumann durchaus positiv. Aber auch diese empfinde ich als anstrengend, so daß sich längere Pausen eher als nutzbringend erweisen. Ihn selbst anrufen würde ich nie. Das weiß er. Ruft er nicht mehr an, ist es vorbei. Wird die Anruffolge zu dicht, also etwa über einen längeren Zeitraum in einem Monatsrhythmus, fange ich an, innerlich abzublocken. Und so etwas birgt immer ein nachhaltiges Katastrophenrisiko, genannt Rückzugstendenzen ohne Aussicht auf Wiederkehr.
„Hatte ich denn schon erzählt, das letzte Jahr bei uns Weihnachten ausgefallen ist, weil meine Frau sich das Bein gebrochen hatte und meine Mutter…“
„Ähm, olles Graumännchen, ich sagte VORletztes Jahr kurz vor Weihnachten.“
„Ups.“
Wenn denn schon einer der wenigen Menschen anruft, mit denen ich mal ganz gerne am Telefon spreche, bleibe ich auch dran. Aber als routinierter Hausmann kann ich auch schwere Dinge durch die Gegend tragen, Putzeimer leeren sowie Stühle von den Tischen runter wuchten und wieder auf ihren Platz stellen, wenn ich dabei in einer Hand ein Telefon halte.
Das Gespräch zog sich erwartungsgemäß länger hin. Es ging um die üblichen altersentsprechenden Männerthemen: Alter, Krankheit, Tod, Ehefrauen, Bürogedöns, Tabletop-Spiele und Modelleisenbahnen. Kurz vor Erreichen der möglichen Aufschlagzeit sowohl des Besuches als auch meiner Angetrauten war das Gespräch vorbei. Es war ganz gut, daß ich entgegen der ursprünglichen Planung kein Essen vorbereiten sollte, denn das wäre dann wirklich etwas knapp geworden. Aber auch das hätte ich im Zweifel während des Telefonierens hinbekommen.
Einen Vorteil hatte der Anruf zweifellos: Ich wurde abgelenkt. Denn schon im Ansatz zeigte sich ja, daß die Wartezeit bis zum Eintritt des Fortgangs der Ereignisse und die während dessen entstehenden Grübeleien mich wieder in den Wahnsinn getrieben hätten. Vermutlich nicht bis zu einer Panikattacke, aber doch immerhin getrieben von einer (Achtung, es folgt eine maßlose Untertreibung) massiven Unruhe.
Normal.
Sagt mal: Wie ist es eigentlich, entspannt einen formlosen Besuch zu erwarten? Und sich darauf auch noch freuen zu können?