Nadja tauchte mit einer Akte in der Hand in unserem kleinen,
gemütlichen Büro auf und trat direkt an Raissas Schreibtisch. Man tauschte sich
über ein rechtliches Problem aus und wie man es in dem besagten Vorgang
handhaben wolle. Raissa hatte dazu gänzlich andere Vorstellungen als Nadja.
Meine Idee dazu war eindeutig: Raissa war auf dem Weg, den ich auch
eingeschlagen hätte. Das überrascht jetzt weniger, da ich sie während großer
Teile ihrer Ausbildung unter meiner Fittiche hatte und auch ihre weitere
Einarbeitung meiner Obhut unterlag, so dass ich sie direkt auf meine Linie
trimmen konnte.
Nun muß man wissen, dass auch Nadja früher, bevor sie ihre
Karriere vorangetrieben hatte, auch eine Zeit lang meine Schutzbefohlene war
und dementsprechend ebenfalls eine gewisse Prägung durch mich erfuhr. Von
Raissas Argumentation verunsicherte schaute mich Nadja fragend an. Mir blieb
nichts anderes übrig, als Raissa zuzustimmen. Nadja ging in sich.
„Hört sich logisch an. Früher habe ich das als Sachbearbeiterin
auch immer so gelöst, das weiß ich noch. Aber dann hat Frl. Hasenclever mir das
mal beanstandet, und dann bin ich auf ihre Linie umgeschwenkt.“
Der geneigte Leser sollte an dieser Stelle zum Verständnis
erfahren, daß Frl. Hasenclever kein Eigengewächs unserer Außenstelle ist,
sondern seinerzeit von einer anderen Außenstelle zu uns wechselte, um bei uns die
Stelle als Fachbereichsleiterin in einem für sie fremden Fachbereich einzunehmen.
Sie war seinerzeit die jüngste Fachbereichsleiterin des gesamten LASA.
Mittlerweile ist es Usus, sogar noch jüngere Kollegen auf entsprechende
Führungspositionen zu heben. Der Jugendwahn hat unseren Herrn Geschäftsführer
voll erwischt. Mit Berufserfahrung und Spezialistenwissen gewinnt man bei uns
keinen Blumentopf mehr; auf dieses Potential verzichtet man bewusst zu Gunsten
anderer Präferenzen. Dabei rollen sich mir die Fußnägel regelmäßig auf, aber
mich fragt ja keiner. Ich bin eben eine aussterbende Art.
Zu Beginn Frl. Hasenclevers Zeit bei uns sind wir – nicht nur
ich, sondern der gesamte Fachbereich – durchaus häufiger aus unterschiedlichen
Gründen aneinandergeraten. Das war ein Zustand, den wir unter erheblichem Zeitaufwand
mit viel Blut, Schweiß und Tränen ändern konnten. Natürlich gibt es auch heute
immer wieder mal Differenzen, aber die sind in einem zwischen Vorgesetzten und
Untergeben üblichen, durchaus erträglichen sowie handhabbaren Maß angesiedelt
und an sich nicht weiter der Rede wert. Von ihrer – durchaus berechtigten –
Kritik Betroffene sehen das zuweilen anders, aber auch das ist bekanntlich
immer so.
Doch ich schweife ab, wenden wir uns wieder dem Thema zu.
„Nadja, ich kann mich
daran erinnern, daß Frl. Hasenclever und ich seinerzeit auch mal eine
Auseinandersetzung zu dem Thema hatten. Sie hat sich danach aber auf meine
Darlegung eingelassen und zieht das seitdem auch so durch.“
„Hmmm, das habe ich nicht mehr mitbekommen. Toll. Seit dem
habe ich das immer so gelöst wie sie es früher wollte und habe das jetzt mit den
Leuten aus meinem Fachbereich auch so gehandhabt.“
„Passiert eben.“
„Ja, aber es ist ja dann meistens zum Nachteil der Kunden
gewesen. Mist! Daß ich das falsch gemacht habe, nehme ich jetzt mit in den Tag.“
Ja, Nadja nimmt sich so etwas schnell zu Herzen.
„Ach Nadja, du kennst
doch die alte Weisheit.“
„Welche?“
„Willst du dir den Tag
versau‘n, musst du nur bei uns reinschau’n!“
Raissa hätte jetzt mit dem Grinsen ja auch ruhig abwarten
können, bis Nadja wieder gegangen ist.