Montag, 2.21 Uhr. Die Tür zu meinem Zimmer wird geöffnet. Ich überlege, ob die Nachtschwester einen Rundgang macht. Es wäre unüblich, aber die jetzige Nachtschwester hat auch zu Beginn ihrer Schicht eine entsprechende Runde unternommen. Das hätte was von einem historischen Nachtwächter, der durch die Stadt geht und sein Lied singt.
„Hört ihr Leut‘ und lasst euch sagen…“
Alle mal wecken, damit sie darüber informiert werden, ruhig weiterschlafen zu können.
Nein, sie macht keine Kontrollrunde. Ich höre das Rascheln einer Plastikfolie. Das direkt an der Tür stehende Bett wird einsatzbereit gemacht und aus dem Zimmer geschoben. Scheiße, das kann nur eines bedeuten. Nämlich, daß ich einen Zimmergenossen bekomme.
Die Maschinerie in meinem Kopf beginnt gnadenlos zu arbeiten. Und es ist nicht nur das Offenkundige, was mir Probleme bereitet. Es geht nicht überwiegend um die Frage, ob der Typ nachts schnarcht, auf die Bettpfanne muß oder derlei Dinge. Und auch nicht nur darum, daß ich von nun an nicht mehr mitten in der Nacht das Licht anmachen kann, um etwas zu lesen. Damit hat jeder zu tun, der im Krankenhaus liegt. Unangenehm, vielleicht auch nur lästig, doch akzeptabel und zu bewältigen. Ist ja kein Hotel hier.
Ich müsste mich aber auch mit jemandem, der mir wildfremd ist, auf persönlicher Ebene auseinandersetzen, ohne daß ich der Sache aus dem Weg gehen könnte. Wie erfolgt die erste Kontaktaufnahme? Die gegenseitige Vorstellung? Verdammte Hacke, sein Bett wäre das neben Waschbecken und Kleiderschrank. Viel Bewegungsraum ist da nicht, ich käme ihm ziemlich nahe, wenn ich dort zu tun habe. Insbesondere beim Haarewaschen, während dessen ich noch mehr Raum in Anspruch nehmen müsste. Natürlich gibt es einen Vorhang, welcher den Waschbereich abtrennt, aber eng bleibt eng. Ich überlege, das Haarewaschen für die Dauer meines Restaufenthaltes einzustellen. Egal, wie beschissen das aussieht und sich anfühlt.
An sich könnte meine Angetraute damit auch ab sofort ihre Besuche einstellen. Ich werde mich hier nicht mehr als das Nötigste mit ihr unterhalten, und seien es noch solche Belanglosigkeiten, so lange ein Fremder mithören kann. Das ist schlimmer als im Bus oder anderen öffentlichen Stellen. In einem geschlossenen Raum, in dem sich nur drei Personen aufhalten, hat das noch eine ganz andere Qualität als in einem Pulk von Menschen. Da versteht doch jeder alles. Die externe Lebensmittelversorgung werde ich auch nicht mehr benötigen. Ich würde ohnehin nur essen, was vom Krankenhaus geliefert wird und auch nur, wann es geliefert wird. Alles andere wäre mir höchst unangenehm. Dies gilt umso mehr für laute Lebensmittel wie Kekse oder knackige Äpfel. Für fast jeden Patienten sind diese Zusatzrationen normal und problemlos. Für mich nicht. Es hat was von
Essen in der Öffentlichkeit.
Die Maschinerie arbeitet weiter. Meine Angetraute könnte auch direkt bei meinen Eltern Bescheid sagen, daß sie nicht auf meinem Handy anrufen brauchen. Jetzt würde ich ohnehin nicht mehr rangehen.
Das Schlimmste überhaupt betrifft euch: Ich würde mein Essen natürlich auch nicht mehr fotografieren. Und auch nichts anderes mehr. Es wäre mir nur peinlich. Stellt euch das vor! Ein Blogger, der sein Essen nicht fotografiert. Ein unhaltbarer Zustand, dem ich nicht hätte abhelfen können.
Stundenlang wälze ich diese Gedanken, immer wieder von vorne. Die Nacht ist für mich vorbei.
5.30 Uhr. Die Nachtschwester erscheint zur nächsten Infusion. Sie fragt, ob ich eine ruhige Nacht gehabt hätte. Ich verneine. Sie erkundigt sich, warum dies so sei. Ich erkläre ihr, daß die Aussicht auf einen Zimmergenossen mir zusetzt. Aber nein, ich würde niemanden aufs Zimmer bekommen. Sie hätte das Bett woanders benötigt, wähnte mich schlafend und war deswegen auch besonders leise. Wohl nicht leise genug. Nun, da hatte sie keine Chance. Ich habe ohnehin meistens nur einen leichten Schlaf. Als meine Angetraute selbst noch in unregelmäßigem Wechseldienst arbeitete, ist es ihr auch so gut wie nie gelungen, in der Nacht unbemerkt nach Hause zu kommen. Die Nachtschwester erklärte, daß sie davon ausgegangen sei, daß ich morgens, wenn ich sehe, daß auch der Nachtschrank weg ist, klar wäre, daß da niemand hinkommt. Ansonsten hätte ich natürlich auch fragen können, wenn ich doch schon wach war. Dieses Zimmer bleibe auf jeden Fall ein Einzelzimmer.
Nein, ich hätte nicht fragen können, denn das ist ja Bestandteil meines Problems. Das ist mehr als eine Erkundigung nach den elementarsten Dingen, die - für jedermann verständlicherweise - erfragt werden müssen. Mir ist ja bewusst, daß ich keinen Anspruch auf ein Einzelzimmer habe. Es ist nur eine Gefälligkeit, so lange es machbar ist. Ich habe keine Gelegenheit, ihr das zu erklären.
Die Nachtschwester verlässt das Zimmer, ich bin wieder alleine. Die Anspannung findet ihren allzu sichtbaren Weg, um wieder von mir abzufallen.
Ich döse den ganzen Vormittag nur vor mich hin, mir fehlt jegliche Konzentration. Immer wieder kommt jemand in das Zimmer: Boden wischen, Fieber messen, Blut abzapfen, Blutdruck messen, Frühstück bringen, Reste abholen, Thrombose-Spritze setzen und noch mehr.
Schwester Danuta erscheint. Auf ihrem Arbeitszettel steht, daß ich mich alleine wiegen soll. Dies führt zu einer gewissen Heiterkeit auf beiden Seiten, denn die Waage besteht aus einem Stuhl, in den man sich zu setzen hat. Füße anheben nicht vergessen, wir wollen ja nicht mogeln. Das Ergebnis ablesen? Die Anzeige befindet sich auf der Rückenlehne und ist nur für jemanden lesbar, der dahinter steht.
Der inhaltliche Höhepunkt eines jeden Vormittags: die Aufnahme der Essensbestellung für den nächsten Tag. Heute war eine junge Frau mit afrikanischen Wurzeln da. Schwarze Löwenmähne, strahlende Augen, bitterschokoladebraune Hautfarbe, astreines Deutsch. Wo bekommen die hier immer die gutaussehenden Mädels her? Wenn ich am Haltepunkt Neustädter Ländchen auf meinen Bus warte, gibt es so etwas nie zu sehen und zu hören. Was da in einem vergleichbaren Alter herumsteht, wirkt überwiegend nur billig. Vielleicht ist dies auch ein Aspekt bei der Personalauswahl. Das gehört bestimmt zum Genesungsprogramm. Mal so aus rein akademischem Interesse gefragt - gibt es hier eigentlich eine Frauenstation, auf der nur gutaussehende Krankenpfleger arbeiten?
Visite, ohne Fanfare. Die amtierende Stationsärztin erscheint unter Abwesenheit Ihrer Majestät. Sie wirkt gleich viel entspannter. Der Rückzug Afrikas geht nur verhalten weiter. Die Ärztin sagt, daß es Geduld erfordere. Die Entzündungswerte zeigen an, daß alles auf dem richtigen Weg ist, auch wenn es nur langsam voranschreitet. Die zwischenzeitlich durch Schwitzen, Waschen, Eincremen und der Auswirkung sonstiger Reibekräfte fast verschwundenen Anzeichnungen der Umrisse Afrikas werden wieder aufgebracht. Etwas weniger kunstvoll als zuvor. Schwester Danuta hat da nicht das Talent ihrer Kollegin.
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| Teile des neuen Afrikas |
12 Uhr, Mittagessen, die Infusion gibt es ausnahmsweise mal vorher. Der Mensch verlangt nach Abwechslung. Auf dem Tablett: Putenbrustbraten mit Champignons und Bandnudeln, frisches Obst, Salat. Das frische Obst hatte man wohl versehentlich mit Joghurt vermengt und in mit Folie verschlossene Plastikbecher gepackt, damit es für alle reicht. Der tote Vogel war etwas trocken.
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| Putenbrustbraten mit Champignons und Bandnudeln, "frisches Obst" |
Die zweitbeste Ehefrau von allen erscheint kurz nach dem Abendessen. Sie hat zum Heben meiner Stimmung einen kleinen Schlenker über eine dieser bekannten amerikanischen Bulettenbratereien gemacht und was mitgebracht. Also einen Nachtisch für mich – und Frühstück für sie. Manchmal geht es nicht anders. Da um 18.00 Uhr meine Infusion wartet und das Tablett von meinem spärlichen Krankenhaus-Abendessen noch zur Abholung bereitsteht, ist mit dem Erscheinen der Krankenschwester jederzeit zu rechnen. Wir warten, weil wir nicht unbedingt essenderweise überrascht werden wollen, und auch nicht unbedingt der Raum nach den entsprechenden amerikanischen Bulettenbrötchen stinken soll. Wie es immer so ist, verzögert sich der weitere Verfahrensablauf natürlich ausgerechnet heute. Ich habe keine geeigneten Vorräte mehr, mit denen ich meine Angetraute über Wasser halten könnte.
Währenddessen läuft das Fußballspiel Deutschland – Portugal. Wir müssen den ohnehin immer noch nicht angemeldeten Fernseher keineswegs einschalten, um über das Ergebnis informiert zu werden. Sowohl von draußen als auch von drinnen hören wir genügend mitfiebernde Menschen, welche dafür Sorge tragen, daß uns das aktuelle Spielgeschehen gewahr wird. Und selbst wenn die nicht gewesen wären – spätestens die Krankenschwester, welche sichtlich verwundert ist, daß hier der Fernseher nicht läuft – teilt uns schließlich das 3 : 0 mit. Nicht, daß wir es hätten wissen wollen. Immerhin sehe ich draußen keinen hupenden Autokorso vom Parkplatz fahren.
Später baue ich meine Idee mit der Modellbahn-Gartenanlage auf dem Dach des Nachbargebäudes weiter aus. Meine Angetraute fragt mich, was denn wohl wäre, wenn mal ein Zug entgleist. Da müsse doch jemand auf das Dach klettern. Kein Problem, eine Leiter ist vorhanden. Und wer gehe dann dahin? Himmel, man kann die Sache auch verkomplizieren. Wozu gibt es Hausmeister? Oder Gärtner? Man kann natürlich auch einen Praktikanten einstellen. Genau. Das wäre es. Natürlich muß der sich auf Rufbereitschaft einstellen. Ja, das ist ein verfolgenswerter Gedankengang. Ich muß dringend meinen Zettel mit dem Verbesserungsvorschlag etwas weiter ausformulieren.